Zum 9. November 2020

Von Benjamin Damm – AG debate.

„di mayse iz gornisht freylekh
un iz nisht geven a mol
mir shreyn nokh in unzre keivar
un ir hobt geholfn hitleristen onezol“ [1]

„Die Geschichte ist überhaupt nicht schön
Und Sie ist es nie gewesen
Wir schreien immer noch in unseren Gräbern
Und ihr habt bereitwillig den Hitleristen geholfen“

Nein, die Geschichte ist gar nicht schön:In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 gingen in Deutschland mehr als 1.400 Synagogen in Flammen auf. Tausende von jüdischen Geschäften, Schulen und Betrieben wurden geplündert und zerstört. Es gab etliche Tote. In den darauffolgenden Tagen wurden etwa 30.000 jüdische Männer von der Gestapo verhaftet und in die Konzentrationslager Buchenwald, Sachsenhausen und Dachau gebracht. Die Meisten kehrten nicht aus diesen Lagern zurück. Es war geplant. Während noch heute der Mythos des „spontanen Aufbegehren der Bevölkerung“ kursiert, war diese Nacht der Wendepunkt, an dem sich die antisemitische Politik der Nationalsozialisten durchsetzte, und die Bevölkerung diese nicht nur mit trug, sondern eifrig mitmachte. Es war der endgültige Auftakt, der von Beginn an angestrebten Vernichtung alles Jüdischen.

Was machen wir mit dieser unschönen Geschichte?Vielerorts hört man von „Aufarbeitung der Vergangenheit“. Doch was meint das? Meint es die ernsthafte Verarbeitung des Vergangenen, dass sein Bann gebrochen wird, durch ein neues Bewusstsein? Oder meint es, dass man lieber einen Schlussstrich ziehen will, die Erinnerungen wegwischen, weil es sich in ihrem Schatten so unangenehm leben lässt?Die Mehrheit der Deutschen hat ihre Antwort längst gefunden: Man hat seine Tage und Orte, an denen wichtig wirkende Leute wichtig klingende Worte sagen. Man inszeniert ein Gedenk-Brimborium, doch im Alltag hat es keinen Platz. Um den Schatten wurde eine Wand aus Denkmälern gebaut, damit man ihn nicht sieht, wenn man ihn nicht sehen will.

Um dies zu verdeutlichen, zwei Beispiele:

Die Firma Topf&Söhne baute in Erfurt die Krematorien für Buchenwald und Auschwitz. Doch nicht nur dies: Die Ingenieure forschten aus eigenem Antrieb, wie sie die Verbrennungsöfen effektiver machen konnten, während sie durchs Fenster bei gutem Wetter den Rauch vom Ettersberg aufsteigen sehen konnten. Nicht der Profit, sondern die Überzeugung machten sie zu Mittätern. Das Gelände ist Komplett abgerissen und neu bebaut worden. Einzig das ehemalige Verwaltungsgebäude ist als Gedenkstätte erhalten worden – jedoch nur nach langem Kampf. Dass heute ein Bäcker, der auf dem ehemaligen Firmengelände von Topf&Söhne auf einer großen Werbetafel mit „Ofenfrischen Brötchen“ wirbt, erscheint erst einmal banal – doch es verdeutlicht auch das mangelnde Geschichtsbewusstsein im Alltag.

Noch deutlich wird es hier in Leipzig: Auf dem Gelände des größten Frauenaußenlagers des KZ Buchenwald in der Kamenzer-Straße finden immer wieder Neonazikonzerte statt. Außerdem trainiert ein rechtes Kampfsportteam an dem Ort, an dem die inhaftierten Frauen gezwungen wurden, unter schwersten Bedingungen Munition herzustellen.Dies sind nur zwei Beispiele von vielen. Das Gedenken wird institutionalisiert und ausgelagert – und verkommt damit zumeist zu einer Show der schönen Worte, das Vergangene wird für abgeschlossen erklärt, als hätte es keine Auswirkungen ins Hier und Jetzt.

Doch:

„Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, daß es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern.“

So schrieb Theodor W. Adorno in seinem Aufsatz „Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit“. Und genau damit wird sich eben nicht auseinandergesetzt – mit den Verhältnissen, in denen der Antisemitismus und der Rückfall in die Barbarei liegen.Stattdessen versucht man den zwei historischen Momenten des 9. November gleichermaßen zu gedenken: der Pogromnacht und dem Mauerfall. Doch das Eine unterliegt zwangsläufig, denn wer erinnert sich schon gerne an etwas Schlimmes, wenn es auch einen Grund zum feiern gibt. Man will dabei auch nicht erkennen, dass das eine aus dem anderen resultierte – die Mauer war eine Reaktion auf den Nationalsozialismus. Also ein doppelter Grund zum feiern: die permanent sichtbare Erinnerung an die deutschen Verbrechen ist weg, und kann im Nachgang als Symbol der eigenen Pein verklärt werden.

Und es wird diskutiert, was das neue „Deutschsein“ bedeutet, wobei man quietschvergnügt übersieht, wie das alte im neuen weiterlebt. Doch Hauptsache es geht um „uns“ – was auch immer dies sein soll. Denn wir sind „wieder wer“ – Erinnerungsweltmeister Deutschland. Ja, es muss um uns gehen, sonst würde der Schatten, den wir so schön in Denkmälern verpackt haben, wieder hervorkommen. Und wenn es nicht um uns geht, dann geht es um tote Juden – nicht um die Lebenden. Das Attentat von Halle, an dessen Jahrestag wir vor einem Monat gedacht haben, und der gesamte mediale wie politische Umgang damit, verdeutlichen dies. Sachsen Anhalts Ministerpräsident will mehr Versöhnung, der Innenminister weniger Polizei vor jüdischen Einrichtungen -da diese sonst nicht der restlichen Bevölkerung helfen können, bei der Gedenkzeremonie in Halle wurde es untersagt Blumen und Kränze niederzulegen da Steinmeier zu Besuch kam, während die MLPD nebenan israelfeindliche Flyer verteilt. Der Prozess ist eine Farce, da Nebenkläger_innen und ihre Anwält_innen scheinbar die einzigen sind, denen an der lückenlosen Aufklärung der Tathintergründe gelegen ist. Und dafür, dass sie dies konsequent einfordern, gebührt ihnen einiges an Anerkennung!

Und heute? Während jegliches Gedenken zum Jahrestag der Novemberpogrome coronabedingt abgesagt oder gar untersagt wurde, marschiert PEGIDA durch Dresden. Wäre es nicht schon fast so etwas wie Normalität, wäre dies ein Skandal – und das ist der viel größere Skandal!

Und auch ein Großteil der deutschen Positionierungen zu Israel zeigen, wie man zu den noch lebenden Jüdinnen und Juden steht. Die Notwendigkeit eines jüdischen Staates als Schutzraum vor weltweit grassierendem Antisemitismus wird nicht erkannt, genauso wenig dass israelische Panzer oder das Raketenabwehrsystem „Iron Dome“ die konsequente Antwort auf das, auf deutschen Gedenkfeiern mantraartig wiederholte, „Nie Wieder“ sind – nämlich „Nie wieder wehrlos!“. Stattdessen ergeht man sich in so genannter „Israelkritik“, doch schon dass es für keinen anderen Staat auf der Welt einen festen Kritik-Begriff gibt, ist Ausdruck der Obsession, die dahinter liegt. Delegitimation und Doppelstandards sind keine Kritik! Doch „am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ – und als Erinnerungsweltmeister wissen Deutsche, wie man zu einer „Guten Nation“ wird.

Heute ist ein Gedenktag, doch wir sollten nicht nur an das Vergangene denken, sondern auch an das Gegenwärtige und das Kommende. Wir müssen uns die Frage stellen: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Ich, für meinen Teil, in keiner, in denen Jüdinnen und Juden auf gepackten Koffern sitzen, weil sie Angst vor rechtsradikalen oder islamistischen Angriffen haben, und weder aus der Linken noch aus dem Rest der Gesellschaft irgendeine Unterstützung erfahren.Antisemitismus ist sowohl fester Bestandteil unserer Geschichte, als auch unserer Gegenwart. Wenn wir ihn nicht in unserer Zukunft haben wollen, sollten wir schleunigst damit anfangen, ihn zu benennen und zu bekämpfen – egal von wem er geäußert wird!

[1] https://www.youtube.com/watch?v=isWyTHfZRo8

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